Sprechnotiz von Untersuchungsrichterin Anastasia Falkner

Bern. Medienkonferenz vom 21. Oktober 2008

Sehr geehrte Damen und Herren

Die Frage, was zu unternehmen ist, um Kinder vor sexuellem Missbrauch besser zu schützen bzw. um diesen Missbrauch ganz zu unterbinden, beschäftigt auch die Strafverfolgungsbehörden seit Jahren. Lösungen wurden in den letzten Jahren zu oft über die Verjährungsregelung im Strafgesetzbuch gesucht. Wurde im Jahr 1985 im Interesse der Opfer erklärt, die Verjährungsfrist sei zu kürzen, damit das Opfer sein seelisches Gleichgewicht zurückerlangen kann, so soll diese Frist heute aus denselben Gründen ganz aufgehoben werden.

Das Argument, die Opfer können erst nach Jahren ihr Schweigen brechen, bringt nun aber im Strafverfahren grosse Schwierigkeiten mit sich, die in erster Linie von den Strafverfolgungsbehörden zu meistern sind, in zweiter Linie jedoch durch die Opfer selbst. Weshalb?

Als erstes möchte ich darauf hinweisen, dass die von der Volksinitiative geforderte Unverjährbarkeit kaum Folgen für Serientäter hätte, da gemäss Gerichtspraxis die Verjährungsfrist für alle Taten mit jeder neuen Tat wieder neu zu laufen beginnt. Nur in diesen Fällen stimmt das Argument, dass zusätzliche Beweise durch Aussagen früherer Opfer hinzukommen. Durch die Unverjährbarkeit betroffen wären somit Täter, die sich seit Jahrzehnten keine gleichartigen Verstösse mehr haben zuschulden kommen lassen. In diesen Verfahren sind aber Beweisschwierigkeiten, wie bereits erwähnt wurde, vorprogrammiert. Um was es dabei wirklich geht, ist die Wahrheitsfindung, die Klärung des Sachverhaltes, und zwar für die Anklage, aber auch für die Verteidigung, welche kaum mehr Entlastungsbeweise vorlegen kann, und schliesslich für das Gericht.

Diese Wahrheitssuche zeichnet sich bei Sexualdelikten durch zwei Besonderheiten aus: Es gibt sehr selten Augenzeugen und die Beschuldigten sind in der Regel nicht geständig. Die Strafverfolgungsbehörden können sich somit nebst der eingehenden Befragung von Opfer und Beschuldigten auf praktisch keine weiteren Beweismittel abstützen. Objektive Beweise wie Spurensicherung, Berichte usw. sind bei lange zurückliegenden Delikten oft gar nicht mehr oder nur sehr schwer zu erheben.

Somit stellt sich für die Strafverfolgungsbehörden die zentrale Frage, ob die gemachten Aussagen glaubwürdig sind. Bevor nun aber die Aussagen überhaupt gewürdigt werden können, ist eine eingehende, detaillierte Befragung notwendig. Gerade der Detaillierungsgrad stellt jedoch ein unüberwindbares Hindernis dar. Opfer können oft nicht verstehen, weshalb Strafverfolgungsbehörden - von denen sie erwarten, dass sie ihnen vertrauen, ihre Interessen vertreten und sie schützen - sie mit kritischen Fragen zum Tatzeitpunkt und Tatablauf plagen. Sie empfinden dies als Zweifel an ihrer Person, manchmal gar als Solidarisierung mit dem Täter. Dabei versuchen Strafverfolgungsbehörden nur die durch Bundesverfassung und Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierten Rechte des Angeschuldigten zu erfüllen, nämlich die ihm zu Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzis wie möglich zu umschreiben. Gelingt dies nicht, fällt oft schon die Möglichkeit der Anklageerhebung dahin oder aber das Gericht befindet die Aussagen etwa als „blass, detailarm, unlogisch wirkend“.

Der Detaillierungsgrad der Aussagen dient zudem der Inhaltsanalyse in Glaubhaftigkeitsgutachten. Wie bereits gesagt ist die Würdigung der Aussagen durch die Strafverfolgungsbehörden als anklagende Behörde und durch das urteilende Gericht zentrales Element des Verfahrens. Auch wenn Kriterien dazu in der Literatur aufgestellt wurden, ist der Kreis jener Staatsanwälte und Richter, die über wirklich fundierte Kenntnisse in Aussagepsychologie verfügen, sehr klein. Aus diesem Grund wird vermehrt, vor allem auch auf Gesuch der Verteidigung, auf Glaubhaftigkeitsgutachten von Psychiatern und Psychologen zurückgegriffen. Dabei misst die moderne Aussagepsychologie der „Uraussage“, der „Geburtsstunde“ der Aussage, eine massgebliche Bedeutung zu. Der Gutachter muss klären, wann, wem gegenüber, wie, mit welchen Angaben, die Erstaussage erfolgte und welche Art von Fragen dem Opfer gestellt wurden. Über Aussagen von Opfern, die sich erst nach einem langen Aufarbeitungsprozess melden und somit über das Ereignis mehrfach mit Freunden, Ärzten, Psychologen, Therapeuten und Anwälte gesprochen haben, können keine seriösen Gutachten mehr erstellt werden. Liegen in einem solchen Verfahren keine anderen Beweismittel vor, ist auch hier mit einem Freispruch nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ zu rechnen.

Durch die Unverjährbarkeit von sexuellen Straftaten an Kindern werden die Ziele der Initiative nicht erreicht. Es entstehen nicht nur für die Opfer sehr belastende Verfahren, es werden damit auch nicht Serientäter anvisiert. Ob dem Opfer durch die langen Verfahren wirklich eine Aufarbeitung gelingt, wage ich sehr zu bezweifeln. Viele Opfer erklären nämlich am Schluss des Verfahrens – wenn sie sich nicht schon vorher dem Verfahren entzogen haben – dass sie, wenn sie gewusst hätten, was sie erwartet, die Anzeige nie gemacht hätten.

Letzte Änderung 21.10.2008

Zum Seitenanfang