Interview, 15. Oktober 2022: CH-Media; Othmar von Matt
CH-Media: "Noch ist die Rückkehr der ukrainischen Flüchtlinge nicht absehbar. Trotzdem bereitet Justizministerin Karin Keller-Sutter diese vor. Sorgen bereitet ihr aber auch die illegale Migration. Die Bundesrätin intervenierte mit anderen Staaten bei der EU-Kommission."
Was denken Sie persönlich, wenn Sie sich die Situation der Ukraine vor Augen halten?
Die Gewalt vor allem Zivilisten gegenüber macht mich sehr betroffen. Die Vergewaltigungen von Frauen sind inzwischen bestätigt. Dazu kommt die gezielte Verunsicherung von Zivilisten mit Angriffen auf die zivile Infrastruktur und die Energieversorgung. Das alles soll auch dazu führen, dass die Menschen das Land verlassen. Wir wissen, mit welcher Brutalität die Kriege in Ex-Jugoslawien geführt wurden. Man konnte sich nicht vorstellen, dass sich so etwas auf europäischem Boden nochmals ereignet.
Fürchten Sie, dass die Situation nun in Europa eskaliert?
Spricht man mit osteuropäischen Staaten, ist diese Angst mit Händen greifbar. Sie haben diese Bedrohung erlebt: 1956 beim ungarischen Volksaufstand, 1968 beim Prager Frühling. Im Mai war ich in Georgien. Der Innenminister erklärte mir, dass die Westeuropäer zu spät verstanden hätten, was geschieht. «Wissen Sie, 30 Kilometer vor Tiflis stehen die russischen Panzer», sagte er. «Damit leben wir.» Georgien befürchtet, Russlands nächstes Opfer zu sein. Spricht man mit baltischen Staaten, befürchten sie dasselbe.
Und wie sehen Sie das?
Ich glaube nicht, dass es so weit kommt. Das wäre dann eine andere Dimension. Deshalb ist es wichtig, die aktuelle Eskalation einzudämmen.
Wie lange dauert der Krieg noch?
Ich hoffe selbstverständlich, dass es bald zu einem Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen mit einem Ergebnis kommt. Ich möchte damit aber nicht den Eindruck erwecken, die Ukraine müsse Zugeständnisse machen. Die Bedingungen müssen für das angegriffene Land stimmen.
Noch ist völlig unklar, wann die ukrainischen Flüchtlinge zurückkehren können. Bereiten Sie ihre Rückkehr dennoch vor?
Ich habe dem Staatssekretariat für Migration (SEM) im Juni das Mandat erteilt, die Rückkehr vorzubereiten, obwohl in der Ukraine noch immer eine schwere allgemeine Gefährdung vorherrscht. Ich wollte dies nicht als Zeichen für eine sofortige Rückkehr verstanden haben. Doch wir müssen uns schon jetzt Gedanken machen, wie eine solche Rückkehr dereinst ablaufen soll. Immerhin haben wir 65 000 ukrainische Personen in der Schweiz.
Helfen da die Erfahrungen aus dem Bosnien- und Kosovo-Krieg?
Ja. Der Bosnien-Krieg dauerte von 1992 bis 1995. Das Abkommen von Dayton kam im November 1995 zu Stande. Im April 1996 widerrief der Bundesrat die vorläufige kollektive Aufnahme der Bosnier. Die Ausreise verlief dann gestaffelt: Zuerst mussten Ende August 1996 Alleinstehende gehen, dann Familien ohne Kinder und zuletzt Familien mit Kindern bis im August 1998. Im Kosovo-Krieg, der von 1998 bis im Sommer 1999 dauerte, lief es genauso.
In beiden Kriegen gab es Rückkehrhilfen. Wie sahen diese aus?
Bosnien-Rückkehrer erhielten 4800 Deutsche Mark. Im Kosovo-Krieg war die Rückkehrhilfe degressiv: zuerst 2400 Deutsche Mark, dann absteigend. Solche finanziellen Hilfen sind auch für die ukrainischen Flüchtlinge wahrscheinlich. Doch auch Projekte für den Wiederaufbau von Wohnraum sind möglich. Diese müssen international koordiniert werden, damit man schrittweise wieder Leute unterbringen kann. Dies wäre Teil des Wiederaufbaus der Ukraine. Bereits heute erhalten ukrainische Flüchtlinge 500 Franken Rückkehrhilfe pro Person. Damit unterstützen wir die freiwillige Rückkehr.
Glauben Sie, der grösste Teil der Ukrainerinnen kehre zurück
Es gibt da zwei Ebenen. Die gesetzliche Ebene: Der Schutzstatus S ist rückkehrorientiert.
Das heisst: Es ist gar nicht möglich, in der Schweiz zu bleiben
Genau. Im Fall von Bosnien und Kosovo wurde das durchgesetzt. Aus dem Kosovo kamen damals 62 000 Flüchtlinge in die Schweiz. 80 Prozent kehrten zurück. 20 Prozent durften aufgrund von kantonalen Regelungen bleiben – oder weil zum Beispiel ihr Asylgesuch angenommen wurde. Heute wird oft behauptet, die Menschen seien nach den Kriegen nicht mehr zurückgekehrt. Doch das stimmt nicht.
Und was ist der zweite Punkt?
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen UNHCR hat im September eine Studie publiziert zu den «Absichten und Perspektiven ukrainischer Flüchtlinge». 81 Prozent sagen, dass sie in die Ukraine zurückkehren möchten, sofern es die Sicherheitslage vor Ort erlaubt. Auf die Frage, ob sie in den nächsten drei Monaten zurückkehren würden, sagen aber nur 13 Prozent Ja. Das hat damit zu tun, dass der Krieg immer noch heftig ist und der Winter vor der Türe steht.
Hilft man der Ukraine im Winter?
Es gibt Bestrebungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM), des UNHCR und der EU, die Unterkünfte winterfest zu machen. «Winterisierung» nennt man das. Es ist besser, wenn die Menschen vor Ort betreut werden können und nicht auch noch flüchten müssen. Das UNHCR sagt, dass der Ukraine-Krieg eine der grössten Vertreibungen der Welt zur Folge hatte. Gemäss UNHCR wurden nahezu sieben Millionen Menschen innerhalb der Ukraine vertrieben, über sieben Millionen mussten die Ukraine verlassen. Damit wurde nahezu ein Drittel der Bevölkerung vertrieben.
Es gibt in der Schweiz aber auch zunehmend illegale Migration.
Die Migration in den Schengen-Raum nimmt in der Tat sehr stark zu. Das hat wohl damit zu tun, dass Personen, die sich in der Türkei und in Griechenland aufhielten, wegen Corona zwei Jahre lang nicht weiter kamen. Nun wollen sie nach Zentraleuropa gelangen.
Und es gibt Probleme mit Serbien?
Seit längerer Zeit kann man visumsfrei in die Westbalkan-Staaten – etwa Serbien – einreisen. Viele Personen aus Indien, Tunesien, Burundi und Kuba kommen nach Belgrad und ziehen mit Schleppern via Ungarn nach Österreich weiter. Bis Ende September zählte Österreich 74 000 Asylgesuche. 80 Prozent davon seien aufgrund der Visumfreiheit über Serbien gekommen, sagte mein österreichischer Amtskollege.
Steigen die Zahlen in der Schweiz ähnlich stark an wie in Österreich?
Die Zahlen steigen zwar auch stark an, aber sie sind nicht vergleichbar mit Österreich. Bei uns reisen die meisten durch und stellen kein Asylgesuch.
Weshalb nicht?
Die Schweiz ist wegen ihrer schnellen Asylverfahren und ihrer Rückführungspolitik nicht attraktiv für nicht schutzbedürftige Personen. Die Asyllage ist aber auch in der Schweiz sehr angespannt. Darum führt das SEM jetzt sogenannte Fast-Track-Verfahren durch für Personen aus Algerien, Marokko und Tunesien, die kaum schutzbedürftig sind.
In der EU gibt es die Vermutung, dass die Migration über Serbien von Russland gesteuert wird, um Europa zu destabilisieren.
Ich kann das nicht bestätigen. Ich habe keine Beweise. Ich habe das von Kollegen in der EU gehört. Möglich ist immer alles. Wladimir Putin traut man vieles zu. Man darf nicht vergessen: Alleine der Ukraine-Krieg führte dazu, dass über sieben Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land verlassen haben. Das ist auch eine Form der Destabilisierung. Einige europäische Staaten geraten hier an ihre Belastungsgrenze.
Inzwischen hat die Schweiz mit anderen Staaten bei der EU-Kommission interveniert zur Visumspraxis der Balkanstaaten.
Österreich, Frankreich, Deutschland und die Schweiz intervenierten. Wir wollten, dass die Kommission die Balkanstaaten auffordert, ihre Visumspolitik jener des Schengen-Raums anzugleichen. Wir erreichten auch, dass die West-Balkanroute im Rat der EU-Innenminister auf die Agenda kam.
Was ergab die Sitzung gestern?
Die Intervention der vier Staaten führte dazu, dass die EU-Kommission das Gespräch mit Serbiens Regierung suchte. Diese willigte ein, ihre liberale Visumspraxis per Ende Jahr aufzugeben. Natürlich ist das eine Frage der Durchsetzung. Doch die EU-Kommission hat Druckmittel: Serbien ist Kandidat für eine EU-Mitgliedschaft. Und die Serben reisen heute ohne Visum in die Schengen-Staaten.
Was war noch ein Thema?
Ein Thema war auch die Frage, wie labil das Verhältnis mit der Türkei ist. Sie hat im Frühling 2023 Wahlen, schwierige Wirtschaftsverhältnisse und vier Millionen Flüchtlinge. Es gibt Staaten auf der Balkanroute, die glauben, die Türkei lasse Flüchtlinge ausreisen.
Ueli Maurer gab seinen Rücktritt. Ist das für Sie der Moment, ins Finanzdepartement zu wechseln?
Diese Frage kommt zu früh. Wir müssen zuerst schauen, wer in den Bundesrat gewählt wird. Dann ist es Sache des Bundesrates, die Departemente zu verteilen. Das ist noch eine interne Angelegenheit des Bundesrates. Diese Diskussion hat noch nicht begonnen.
Für die FDP wäre es aber schon wichtig, ein Schlüsseldepartement wie das EFD zurückzugewinnen.
Es ist verpönt, dass Parteien bei der Departementsverteilung mitreden. Dass das offensichtlich nicht der Fall ist, hat man ja 2018 gesehen.
Damals erhielt SVP-Bundesrat Guy Parmelin das Wirtschaftsdepartement mit Hilfe von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis – obwohl Sie es ebenfalls wollten. Ist heute in der Regierung Unruhe spürbar?
Nein. Schön am Schweizer System ist, dass ein Bundesratsrücktritt nicht destabilisierend wirkt. Wir wissen sicher, dass Ueli Maurers Nachfolge am 7. Dezember gewählt wird und Maurer bis Ende Jahr im Amt bleibt. Das ist eine grosse Stärke des Schweizer Systems.
Letzte Änderung 15.10.2022