Interview, 31. Januar 2021: SonntagsBlick; Sermîn Faki
SonntagsBlick: "Kommenden Sonntag jährt sich die Vollendung der Schweizer Demokratie zum 50. Mal. Die Einführung des Frauenstimmrechts am 7. Februar 1971 ist für Karin Keller-Sutter ein Grund zum Feiern. Im Interview erklärt sie, was es für echte Gleichstellung noch braucht."
Frau Keller-Sutter, Sie haben die Einführung des Frauenstimmrechts als Siebenjährige miterlebt – also nicht als Betroffene. Für Sie war es immer normal, abstimmen und wählen zu gehen. Haben Sie mal eine Abstimmung geschwänzt?
Ich würde jetzt nicht auf die Bibel schwören, dass ich nie eine verpasst habe – beispielsweise, als ich im Ausland studierte. Aber ich empfinde das Stimm- und Wahlrecht in einer direkten Demokratie als Privileg und habe immer an Wahlen und Abstimmungen teilgenommen. Umso mehr, nachdem ich im Sek-Alter realisiert hatte, dass bei meiner Geburt kein Stimmrecht für mich vorgesehen war.
Wie wurden Sie politisiert?
Am Mittagstisch. Meine Eltern hatten ein Restaurant. Da bekam ich schon als Kind die bürokratischen Hürden mit, etwa wenn meine Eltern ausländisches Personal einstellen wollten und es mit dem Kontingentsystem zu tun bekamen. Das hat mich ebenso politisiert wie die Erzählungen meines Vaters aus seiner Zeit im Aktivdienst.
Im Parlament gibt es so viele Frauen wie nie zuvor, und auch ein Bundesrat ohne angemessene Frauenvertretung ist nicht mehr vorstellbar. Was meinen Sie: Wird die Feminisierung der Politik so weitergehen?
Ich würde es nicht Feminisierung nennen, sondern Normalisierung. Es wird zum Glück einfach selbstverständlich, Frauen an der Macht zu beteiligen. Die Schweiz führte das Frauenstimmrecht vergleichsweise spät ein, aber holte seitdem stark auf. Aber ich würde mich freuen, wenn noch mehr Frauen zu Wahlen antreten und gewählt würden. Und zwar Frauen aus allen politischen Richtungen – denn Frauen haben ja ebenso unterschiedliche Profile wie Männer.
Ist es wichtig, dass Frauen in politischen Gremien analog zu ihrem Bevölkerungsanteil vertreten sind?
Ja. Die politische Vertretung sollte die Gesellschaft abbilden: Leute aus der Stadt und vom Land, mit verschiedenen politischen Überzeugungen, Frauen und Männer. Es geht darum, dass man die Macht und Verantwortung teilt. Frauen leisten ebenso viel in diesem Land wie die Männer: im Erwerbsleben, in der Familienarbeit, in Vereinen. Das soll sich auch in Politik und Wirtschaft abbilden.
Politisieren Frauen anders?
Ich wehre mich gegen Klischees. Menschen werden auf viele Arten geprägt. Jede und jeder hat eine andere Persönlichkeit, eine andere Ausbildung, andere Erfahrungen. Auch wenn es Erfahrungen gibt, die nur Frauen machen, finde ich es falsch, Frauen auf ihr Geschlecht zu reduzieren.
Als Justizministerin sind Sie fürs Thema häusliche Gewalt zuständig. Kürzlich haben Sie eine Roadmap gegen Gewalt an Frauen angekündigt, die zeigt, wo der Bund und die Kantone Verbesserungspotenzial haben. Wo sehen Sie beim Bund Bedarf?
Die Bekämpfung von häuslicher Gewalt ist primär Aufgabe der Kantone. Das Justizdepartement ist zuständig für die übergeordnete Gesetzgebung, zum Beispiel für das Strafrecht. Da haben wir in den letzten Jahren viel getan. Dennoch möchte ich mit den Kantonen gemeinsam daran arbeiten, Anwendungslücken zu schliessen, Kräfte zu bündeln und voneinander zu lernen. Einige Kantone haben schon ein sehr gutes Bedrohungsmanagement, um Gewaltdelikte zu verhindern, andere sind noch nicht so weit.
Vorschläge, um Gewalt an Frauen zu verhindern, liegen ja auf dem Tisch: die Live-Überwachung von Tätern oder der Notfallknopf für Frauen, mit dem sie in Gefahrensituationen die Polizei alarmieren können. Der Bund wollte diese Möglichkeiten prüfen. Und?
Diese Fragen werden wir ja im Rahmen eines Berichts an das Parlament beantworten. Daran arbeiten wir mit Hochdruck. Das Bundesamt für Justiz hat hierzu auch ein externes Gutachten in Auftrag gegeben. Was man sagen kann: In anderen Staaten werden solche Instrumente bereits genutzt. Offenbar mit guten Ergebnissen. Und ich finde, wir sollten den technischen Fortschritt nutzen. Doch ich verstehe auch die Skepsis der Kantone, die das umsetzen müssten. Eine Live-Überwachung von Tätern ist mit enormem Aufwand für die Polizei verbunden, ohne hundertprozentige Sicherheit zu bieten. Wir werden sehen, was in der Schweiz anwendbar ist und wozu die Kantone bereit sind.
Expertinnen sagen, dass man schon bei der Bildung ansetzen müsse – Buben müssten lernen, Gewalt zu umgehen. Haben sie recht?
Bildung ist immer wichtig, aber das ist mir etwas zu einfach. Häusliche Gewalt ist nicht einfach anerzogen, sondern hat viele Ursachen. Ohne etwas zu entschuldigen: Einmalige Vorfälle, Eskalationen, ohne dass es eine generelle Gewaltneigung des Täters gibt, muss man unterscheiden von Fällen, in denen ein Opfer in Trennung ist und weiterhin massiv bedroht wird. Als Justizdirektorin in St. Gallen habe ich viele Fälle von häuslicher Gewalt gesehen – in allen Schichten und auch in Familien, bei denen man das nie gedacht hätte.
Ebenfalls zur Diskussion steht eine Verschärfung des Sexualstrafrechts – nur Ja soll Ja heissen, alles andere soll Vergewaltigung sein. Ist das richtig? Sex ist doch kaum jemals einmal eindeutig.
Die Frage ist rechtlich sehr anspruchsvoll und wird von Strafrechtlern unterschiedlich beantwortet. Die Revision des Sexualstrafrechts liegt derzeit bei der Rechtskommission des Ständerats. Das BJ hat zuhanden der Kommission Vorschläge erarbeitet. Wie die Lösung dann genau aussehen wird, kann ich nicht vorwegnehmen. Ich bin aber sicher, dass es möglich ist, griffigere Formulierungen zu finden. Der Wille ist gross, eine Lösung zu finden, um mehr Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Wir sind ein bisschen vom Thema abgekommen – es geht ja eigentlich um Gleichberechtigung. Wo sehen Sie hier die grösste Baustelle in der Schweiz?
Mir geht es um Chancengleichheit – und da ist für mich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie der Schlüssel. Jede Familie soll sich so organisieren können, wie sie will. Und wenn Frauen trotz Familie weiterhin arbeiten wollen, um eigenständig, finanziell unabhängig und sozial abgesichert zu sein, sollen sie das können.
Da sind aber vor allem Sozialminister Alain Berset und Finanzminister Ueli Maurer in der Pflicht, oder?
Nicht nur, auch die Kantone und die Wirtschaft! Ich engagiere mich aber ideell als Schirmherrin der Allianz für Vereinbarkeit und Familie, in der Parlamentarier, Kantone und Wirtschaft vertreten sind. Insbesondere junge Paare wollen heute Beruf und Familie unter einen Hut bringen. Also braucht es zum Beispiel mehr Möglichkeiten für Fremdbetreuung. Hier sehe ich den Staat und die Wirtschaft gemeinsam in der Verantwortung.
Wenn Sie sich zum 50-Jahr-Jubiläum etwas wünschen dürften – was wäre das?
Ich bin es nicht so gewohnt zu wünschen! Ich muss ja immer nur ausführen … (lacht)
Als Bundesrätin können Sie doch befehlen und wünschen …
… da kann man auch nicht alles! Ich wünsche mir, dass uns bewusst wird, wie gross das Privileg ist, das wir Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mit der direkten Demokratie in der Schweiz haben. Und dass Frauen die Möglichkeiten nutzen, die sie schon heute haben: in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.
Letzte Änderung 31.01.2021